Die Ukraine im Krieg

 

Der Krieg in der Ukraine kam nicht überraschend. Über 150.000 russische Soldaten und eine wachsende Menge an militärischem Gerät, wie auch die sich verdichtenden Warnungen von amerikanischer und britischer Seite ließen bereits im Jänner vermuten, dass kriegerische Auseinandersetzungen bevorstünden. Cyberangriffe auf Banken und Ministerien standen beinahe auf der Tagesordnung und Bombendrohungen auf Schulen und öffentliche Einrichtungen wurden verstärkt gemeldet. Auch die österreichische Botschaft war betroffen und musste vorübergehend evakuiert und nach Bomben durchsucht werden.

Überraschend war das Ausmaß der Invasion. Wir gingen davon aus, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen im Osten in den Separatistengebieten zunehmen würden, in den besetzten Gebieten Lugansk und Donezk, Putin vielleicht sogar den erneuten Versuch starten würde, die Landbrücke zur Krimhalbinsel zu erobern und die für ihn strategisch wichtige Hafenstadt Mariupol einzunehmen versuchen würde. Ein Landkorridor zwischen den besetzten Gebieten im Osten und der Krim ist für die Versorgung der Krimhalbinsel von großer Bedeutung. Niemand von uns ahnte, dass Charkiw verwüstet und auch die Hauptstadt Kiew und viele andere Städte bombardiert und eingekesselt würden.

Die Ukraine im Krieg

Die Invasion und der Krieg, waren sowohl ideologisch als auch militärisch vorbereitet und der Zeitpunkt von Putin nicht zufällig gewählt: Der Abstieg der USA als Supermacht und die sichtbare Schwäche nach dem Abzug aus Afghanistan kamen Putin sicher gelegen. Europa erschöpft von der Flüchtlingskrise und der Pandemie. Frankreich vor den Wahlen, in Deutschland eine noch unerfahrene neue Ampelkoalition an der Macht. Dies waren sicher Faktoren, die Putin als günstig kalkulierte.

Die wachsende Angst vor Demokratie und Liberalität vor der eigenen Haustüre war und ist für Putin jedoch die größte Bedrohung. Die Nato hat Russland nicht bedroht, sondern durch das erfolgreiche Beispiel der Ukraine als demokratischer und liberaler Staat, bei gleichzeitigen wirtschaftlichem Abstieg, steigender Armut in Russland und demografischer Regression.

Es handelt sich nicht um den der ersten Krieg Putins. Erinnern wir uns an die beiden Tschetschenienkriege Ende der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts (Zerstörung von Grosny), an den Einmarsch russischer Truppen im August 2008 in Georgien, den Syrienkrieg (Zerstörung von Aleppo) die Besetzung der Halbinsel Krim (2014) und der Gebiete Donezk und Lugansk, wo Putin entweder die russische Armee oder von ihm angeheuerte Söldnertruppen (Wagner Truppe) in den Kampf entsendet hatte. Militärisch war die Invasion erprobt und durch die massive Ansammlung von Militär an der ukrainischen Grenze schon im Herbst 2021 vorbereitet. Wenn auch Putin die ukrainische Seite und den ukrainischen Kampfwillen massiv unterschätzt zu haben scheint.

Die strategische Vorbereitung des Krieges umfasste auch die jahrelangen Bemühungen der Spaltung Europas. Er kaufte Politiker und finanzierte politische Parteien, veranlasste bzw. genehmigte Cyberangriffe, wie zum Beispiel auf das deutsche Auswärtige Amt und brachte seine Propagandamaschine in volle Fahrt („RussiaToday“ und der nachgewiesene Einsatz von „Trollen“ in den sozialen Medien). Rohstoffabhängigkeit, Energieabhängigkeit und wirtschaftliche Verflechtungen von Industrie und Banken vieler europäischer Länder sicherten Putin Stimmen gegen die Verschärfung der Sanktionen von 2014 und gegen die wirtschaftliche Isolation (z.B.: Ungarn: Kredite für den Bau eines Atomkraftwerkes in Paks, V. Orban wenige Tage vor der Krimbesetzung 2014; Pipelineprojekt Nordstream 2).

Auch ideologisch war der Krieg vorbereitet. Putin bediente sich großrussischer, nationalistischer Ideologen wie Alexander Dugin und verfasste seine eigene russische Geschichte und die Vision eines russischen Reiches. Die Taufe des heiligen Wladimir in Kyiw (988 n.Chr. im Fluss Dnjepr, Christianisierung der Rus), ist Symbol der Reinheit und Einheit eines Reiches (Kyjiwer Rus). Die Wiederherstellung der Reinheit und Einheit sind Putins Rechtfertigung für Gewalt, was durchaus als faschistische Ideologie bezeichnet werden kann. Die Kyjiwer Rus war ein loser Verband von Fürstentümern, entstanden im späten 9. Jahrhundert, durch normannische Krieger (Waräger; Rurikiden) und Kaufleute gegründet. Es umfasste Gebiete der heutigen Ukraine, Russlands und Weißrusslands. Ukrainische und russische Geschichtsschreibung wetteifern um ihr Erbe.

Putin sieht in der Ukraine ein künstliches Gebilde und Konstrukt, mit nicht funktionierendem Staatswesen, entstanden durch Kräfte von außen, mit Hilfe Polens, Österreichs, Europas, der Amerikaner und entzieht der Ukraine gleichzeitig die Existenzberechtigung. Vergleich: 1938 und 1939 war es Hitler, der die Tschechoslowakei als solch ein künstliches Gebilde betrachtete und 1939 definierte Stalin Polen auch als Land, das keine Berechtigung zur Existenz habe.

Die Ukraine im Krieg

Das Staatswesen der Ukraine entwickelte sich seit 2014 erfolgreich, wenn auch Reformen noch nicht abgeschlossen sind. In der Ukraine gab es in den letzten 20 Jahren 6 Präsidenten, in Russland nur einen. Beim ukrainischen Justizministerium sind 400 Parteien registriert und das Parlament funktioniert nach demokratischen Spielregeln. Nach 2014 entstanden Regelungen für Minderheitensprachen (Ungarisch etc.) und auch Religionsgemeinschaften. Auch an der Föderalisierung des Landes wird schrittweise gearbeitet. Das Hochschulwesen und die Wissenschaft sind durch die Programme Bologna und Horizon 2000 an den europäischen Hochschulraum angeschlossen. Ein wirtschaftliches und ein politisches Assoziierungsabkommen bestehen mit der Ukraine und der EU seit dem Jahr 2014. Witziges Beispiel einer funktionierenden Verwaltung: Das ukrainische Steueramt verlautbarte vor wenigen Wochen, dass ukrainische Landwirte, die sich russisches Militärgerät aneignen, hierfür keine Steuer bezahlen müssen.

Die „Entnazifizierung“ ist ein Paradox und ein Instrument der Propaganda, wenn man bedenkt, dass die Ukraine mit Wolodymyr Zelenski über einen gewählten Präsidenten verfügt (über 73% haben ihn gewählt), der jüdischer Abstammung ist. Putin bedient sich historischer Feindbilder aus der Sowjetzeit und des II. WKs und definiert Begriffe wie die „Entnazifizierung“ oder „Denazifizierung“ neu. Mit der Propaganda der „Denazifizierung“ ist es Putin möglich, in Russland Anhänger für den Krieg in der Ukraine zu mobilisieren. Er erinnert an die ukrainischen Nationalisten der Zeit des II. WKs, die gegen die Sowjetunion gekämpft haben und mit dem Deutschen Reich kollaboriert haben.

Die Restauration des russischen Reiches ist Ziel Putin. - Ein Reich, das sich bis dorthin erstreckt, wo noch Russisch gesprochen wird. Ukrainisch ist für ihn und die meisten Russen, bestenfalls ein Dialekt. Ein Russisches Reich, ohne die Ukraine, ist für Putin undenkbar. Die ukrainische Sprache galt schon im Zarenreich als Dialekt der Kleinrussen und wurde in etwa 40 Gesetzen im Laufe des 19. Jahrhundert als Unterrichtssprache und Amtssprache verboten. Im Zarenreich und in der späten Sowjetunion hatte die ukrainische Sprache einen sehr schweren Stand gegenüber der russischen Sprache.

Der I. WK führte zum Zusammenbruch des Zarenreiches und des Habsburgerreiches, was letztlich nach einem gescheiterten Versuch der Etablierung einer unabhängigen Ukrainischen Volksrepublik 1918/1919 in die Gründung der ukrainischen Sowjetrepublik mündete.

Zwangskollektivierung und eine schreckliche Hungersnot (Holodomor) 1932 und 1933 folgten. Stalin wollte die Bauern unter Kontrolle bringen und die Erträge aus der Landwirtschaft steigern, um die Industrialisierung zu finanzieren. Dies kostete vier Millionen Ukrainern zwischen 1926 und 1933 das Leben. In der Ukraine wird der Holodomor als künstlich herbeigeführte Hungersnot und als aus Moskau gesteuerter Genozid am ukrainischen Volk gesehen, was bis heute ein Streitpunkt der Historiker beider Länder ist.

Im II. Weltkrieg war die Ukraine wieder Hauptkriegsschauplatz. Man rechnet heute mit 6,5 bis 7,5 Mio Opfern unter den Ukrainern im II. WK. Die Ukraine war 1945 weitgehend zerstört. Ab 1945 wurde auch in den westukrainischen Gebieten die sowjetische Ordnung eingeführt.

Nach Stalins Tod 1953, unter Chruschtschow, waren die Ukrainer wieder stärker in Staats- und Parteigremien vertreten. Die Halbinsel Krim wurde unter Chruschtschow 1954 unter die Verwaltung der Sowjetukraine gestellt, was verwaltungstechnisch Vorteile brachte. Sie verblieb nach Auflösung der UdSSR als Autonome Republik Krim innerhalb des ukrainischen Staates. Niemand dachte damals an den Zerfall der Sowjetunion.

Nach 1985 setzte mit Michail Gorbatschow die Perestrojka ein und auch die Unabhängigkeitsbewegung in der Ukraine erstarkte. 1990 erklärte die ukrainische Sowjetrepublik ihre Souveränität und am 24. August 1991 ihre Unabhängigkeit. Die Sowjetunion wurde aufgelöst.

Es folgten schwierige Jahre der Konsolidierung. 1994 der Verzicht auf Atomwaffen im Budapester Memorandum, das die Unterzeichner des Memorandums (USA, GB, Russland) zur Anerkennung der Souveränität der Ukraine verpflichtete.

Unter Präsident Kutschma verfolgte die Ukraine nach außen eine „Multivektorale Politik“ (Äquidistanz zu Russland und EU) verfolgte.  2004 folgten Wahlen zwischen Janukowytsch und Juschtschenko und der Giftanschlag auf Juschtschenko. Janukowytsch gewann durch Wahlbetrug, was 2004 die Orange Revolution auslöste. Die Wiederholung der Wahl gewann der prowestliche Viktor Juschtschenko. Reformen blieben allerdings aus und 2010 konnte Janukowytsch die Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden.

Im November 2013 weigerte sich Präsident Janukowytsch auf Druck aus Moskau, das Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen, was Ausgangspunkt für die „Revolution der Würde“ war und den schrecklichen Ereignissen mit über 100 Gefallenen (Himmlische Hundertschaft) auf dem Maidan in Kyiw im Februar 2014. Kurz darauf tauchten auf der Halbinsel Krim überraschend russische bewaffnete Einheiten auf, die an ihren Uniformen keine Hoheits- und Rangabzeichen trugen.

Im Frühjahr 2014 besetzten bewaffnete Milizen, die von Russland gesteuert und massiv mit Waffen und Soldaten unterstützt wurden, Teile des Donezk-Beckens (Donbass), des Industriegebiets im Südosten der Ukraine, und riefen die «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk aus. Im August 2014 griffen schwerbewaffnete russische Einheiten direkt in das Kriegsgeschehen ein. Spätestens jetzt nahm die Auseinandersetzung den Charakter eines unerklärten russisch-ukrainischen Krieges an. Bis heute zählt man fast 14.000 Opfer, mehr als 2,5 Millionen wurden in die Flucht getrieben. Der Waffenstillstand durch das Abkommen von Minsk war ein brüchiger und mündete nicht in Friedensverhandlungen und eine bleibende Friedenslösung.

Die Ukrainer sehen sich in ihrem Freiheitskampf gegen ein totalitäres Regime als Hüter eben dieser europäischen liberalen, demokratischen Werteordnung.

Andreas Wenninger:

Geboren 1968 in Wien. Studierte Ost- und Südosteuropäische Geschichte in Wien und leitet seit Oktober 2000 als österreichischer Wissenschafts- und Bildungsattaché das Österreichische Kooperationsbüro in Lemberg/Lwiw, welches seit dem Jahr 2010 Außenstelle der Agentur für Bildung und Internationalisierung (OeAD) ist. Davor war Andreas Wenninger als Vertragsassistent am Institut für Ost- und Südosteuropaforschung der Universität Wien und am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa als wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt.

Literaturtipps:

  • Andreas Kappler: Die ungleichen Brüder
  • Andreas Kappeler: Die Ukraine - Prozesse der Nationsbildung;
  • Catherine Belton, Putins Netz
  • Serhii Plokhii, The Gates of Europe, The Frontline: Essays on Ukraine´s Past and Present
  • Tymothy Snyder, Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin, Der Weg in die Unfreiheit Russland-Europa-Amerika
  • Anne Applebaum, Twilight of Democracy: The Failure of Politics and the Parting of Friends
  • Winfried Schneider-Deters, Ukrainische Schicksalsjahre 2013–2019: Band 1 und 2 (Taschenbuch)
  • Jutta Sommerbauer, Die Ukraine im Krieg: Hinter den Frontlinien eines europäischen Konflikts
  • Yuriy Andruchwytsch, Das letzte Territorium, Essays
  • Analysen und Kommentare von Andreas Umland
  • Länderanalysen Ukraine, Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen