Der Heilige Vitalis

Salzburgs erster Bischof und ‚Apostel‘ des Pinzgaus - eine Spurensuche

Der Heilige Vitalis

Die christliche Welt erlebte im achten Jahrhundert vielerorts Umbrüche. Muslimische Heere eroberten 711 das westgotische Iberien. Byzantinische Bilderverbote und Steuereintreiber sowie langobardische Kriegerfürsten bedrängten die Päpste Roms und ließ sie nach neuen Partnern ausschauen. Sie fanden sie bei den Machthabern der Franken, die mithilfe ihrer Krieger und angelsächsischer Mönche immer weitere Gebiete jenseits von Rhein und Donau kontrollierten. Auch im Alpen-Donau-Raum wurden die Weichen neu gestellt. An den raren, parteiischen Quellen dazu (v.a. Heiligen-Viten, Güterlisten) haben sich Generationen von Mediävisten abgearbeitet, um ihnen leidlich gesicherte Erkenntnisse abzuringen.

Die sog. Völkerwanderung hat mit den Städten dieser Region auch die an sie geknüpften Bischofssitze ausgelöscht - nicht aber alles christliche Leben, das sich in romanisch geprägten Landstrichen wie im Raum Salzburg halten konnte und alsbald auch den Alltag der neuen bairischen Siedler prägte. Ab 700 bemühte sich Herzog Theodo II. um die Neu-Errichtung von Bistümern, wozu er fränkische ‚Gastbischöfe‘ ins Land lud, um die dafür nötige Infrastruktur zu schaffen. Mustergültig gelang dies dem Wormser Bischof Rupert, der für sein Wirken mit Bedacht Salzburg auswählte. Hier residierte Theodos Sohn Theodbert als Mit-Regent Bayerns; das weiße Gold der Salzmetropole Reichenhall verschaffte die nötigen Mittel. Der Romane Vitalis wurde Ruperts engster heimischer Mitarbeiter und wohl auch Dolmetsch, womit er zum Aufbauwerk maßgeblich beitrug: der Aufrüstung einer lokalen Kleriker-Gemeinschaft zum Bischofskloster St. Peter; der Errichtung des Stiftes Nonnberg für Witwen und Töchter aus den besten Familien Bayerns; der Gründung einer Maximilianszelle in Bischofshofen als erstem Kloster im Innergebirg. Zum Gelingen des Vorhabens trug bei, dass Rupert und sein Stab nicht nur die Herzöge, sondern auch Vermögende der Region zu Schenkungen bewegen konnten. Die Stifter überschrieben dabei Grundbesitz samt Eigenleuten und Eigenkirchen an St. Peter, dessen Erträge aber ihnen verwandten Klerikern zugestanden wurden. Solcherart ‚blieb alles in der Familie‘ bzw. wurden quasi geistliche Nebenlinien geschaffen und materiell abgesichert. Das Standardwerk zur bairischen Frühgeschichte des Joachim Jahn [Ducatus Baiuvariorum, 1991] ordnet Vitalis und seinen dritten Nachfolger Johannes (†745) einer Gruppe solcher Stifter-Familien mit Besitz in Wals, Reichenhall und dem Pinzgau zu, bei denen sich beide Namen auffällig häuften. Dieser ‚Saalach-Kreis‘ spielte damit eine ähnliche Pionier-Rolle für die ökonomische und kirchliche Erschließung des Pinzgaus wie zuvor ein ‚Salzach-Kreis‘ von Stiftern aus dem Raum Puch-Oberalm für den Pongau. Das attraktive Modell schuf bis um 790 ein Netzwerk von über sechzig Bischofskirchen, ungleich dichter als für die übrigen Bistümer Bayerns. Ab wann aber gab es wieder ‚kanonische‘ Bischofssitze nach kirchlichen Normen?

Die aktuelle Forschung betrachtet die Genese der bairischen Landeskirche als Etappenweg, der 798 in die Erhebung Salzburgs zur Metropole (i.e. Sitz eines Erzbischofs) durch Karl den Großen mündete. Den maßgeblichen Schritt, die Ortsbestimmung der Bischofssitze, setzte demnach nicht erst der Angelsachse und ‚Deutschen-Apostel‘ Bonifaz 739, sondern schon ein ‚Staatsakt‘ von 716. Damals begab sich Theodo als „erster seines Stammes“ auf Romfahrt und erwirkte von Papst Gregor II. (715-731) eine Kirchenordnung für Bayern. Zudem sandte Gregor eine hochrangige Kuriendelegation mit dem Auftrag dorthin, im Rahmen einer Versammlung der Großen die Sitze festzulegen. Man errichtete sie an den Burg-Residenzen des nun auf vier Theodo-Söhne aufgeteilten Herzogtums: in Regensburg, Salzburg, Freising und Passau. Das Modell von Teil-Herzögen war naturgemäß konfliktträchtig und erschwerte die Besetzung einiger Stühle. Nicht so in Salzburg, wo Rupert - zweifellos in enger Abstimmung mit Theodbert - seinen Mitarbeiter Vitalis zum ersten Bischof weihte, bevor er nach Worms heimkehrte und dort am Ostersonntag, den 27. März 718, verschied. Mit der Vordatierung der Errichtung von Bistümern gerät eine erste Bischofsriege Bayerns ins Rampenlicht, die bislang wenig beachtet wurde und Vitalis anführt. Welche Rückschlüsse erlauben die Quellen auf seine Amtszeit?

Ein Überfall heidnischer Slawen auf die Maximilianszelle Anfang der 720er Jahre bescherte dem jungen Bistum einen frühen Rückschlag. Sonst aber erfreute man sich in Salzburg geordneter Verhältnisse. Die Umstände ließen Vitalis quasi zum Hofbischof am wichtigsten Herzogssitz und obersten rituellen Betreuer seiner prominenten Akteure werden. Dem Rupert- und Vitalis-Förderer Theodbert folgte nach wenigen Jahren Sohn Hugbert (†735) nach; seine Witwe Regintrud waltete im Kreis ersten Damen im reich dotierten Stift Nonnberg, was das Ansehen des Ortes weiter stärkte. Man unterhielt beste Kontakte zur langobardischen Elite, hatte doch König Liutprand (†744) die Jugend im Salzburger Exil verbracht und 715 die Herzogstochter Guntrud geheiratet. Theodbert hatte ihm 712 den Weg zum Thron in Pavia geebnet; Liutprand verhalf 725 Sohn Hugbert zur Allein-Herrschaft in Bayern. Er nutzte sie, um auch die übrigen Bistümer abzusichern: mit Schenkungen für Regensburg und Passau; die (Wieder-)Einsetzung von Bischöfen, die durch Weihen in Rom legitimiert waren (Korbinian in Freising, Vivilo in Passau). Das Fehlen jedes Hinweises auf Konflikte spricht für eine konsens-orientierte Amtsführung des Vitalis nach dem Vorbild Ruperts – für Bischöfe dieser Zeit nicht selbstverständlich: Emmeram wurde bei Regensburg ermordet und Korbinian aus Freising verjagt, nachdem sie sich ins Liebes- und Eheleben der Herzogsfamilie gemischt hatten. Vitalis verstarb an einem 20. Oktober, vermutlich Ende der 720er Jahre.

Die Vitalis-Jahre haben sich positiv ins kollektive Gedächtnis eingeprägt. Ein Weißbuch der Salzburger Kirche [Über die Bekehrung der Bayern und Karantanen, verfasst 870] überliefert eine Passage der verlorenen Ur-Vita Ruperts aus den frühen 770er Jahren, wonach Vitalis ein „beim ganzen Volk beliebter Bischof, hervorragender Lehrer und Verkünder des Wortes“ gewesen sei. Mehr noch: Bereits ein Verzeichnis aus 846 erwähnt Vitalis-Reliquien, was die Exhumierung (‚Erhebung‘) seines Leichnams voraussetzt – das gängige Ritual der Zeit für Heiligsprechungen. Damit kann Vitalis auch als erster einheimischer Heiliger Salzburgs gelten. Dem Andenken förderlich waren sicher auch jährliche Armen-Speisungen am Todestag mit Brot und Käse, bestritten aus Pinzgauer Abgaben an St. Peter.

Vitalis eröffnet eine Riege erster Salzburger Bischöfe, die vermutlich aus der Region stammten. Auf ihn folgte ein noch von Hugbert bestellter Flobrigis, von dem nur Totenbücher von St. Peter und Michaelbeuern zeugen. Mit Herzog Odilo (736-748) aber hoben turbulente Jahre an. Der päpstlich autorisierte Angelsachse Bonifaz degradierte 739 fast den gesamten Episkopat Bayerns, was naturgemäß Widerstand hervorrief. Odilo wurde für Jahre außer Landes getrieben, Bonifaz 743 durch einen neuen Legaten ersetzt. Unter den gestürzten Oberhirten befand sich auch Liudo, den ein Papstschreiben von 738 unter die legitimen Bischöfe Bayerns zählte. Er stand nachweislich Klerikern des Oberalmer Salzach-Kreises nahe, für die er bis in die späten 740er Jahre amtshandelte. Dass Bonifaz an seiner Statt den aus dem Saalach-Kreis stammenden Johannes auf den Salzburger Stuhl hievte, deutet ein frühes regionales Schisma an, das noch Bischof Virgil (745-787) zeitlebens in Beschlag nahm. Erst ein Nachtrag im Verbrüderungsbuch von St. Peter sicherte auch Liudos Andenken.

Ungeachtet noch offener Fragen zu Salzburgs ersten Bischöfen von Vitalis bis Johannes: Ihnen allen kam das unschätzbare Verdienst zu, das reiche religiöse, kulturelle und wirtschaftliche Erbe des Bayern-Apostels Rupert weitgehend ungeschmälert in die Ära von Bischof Virgil bzw. des letzten Agilolfinger-Herzogs Tassilo III. (749-787) hinübergerettet zu haben, unter denen Salzburg endgültig zu einer Kirchen- und Kulturregion ersten Ranges aufstieg.   

 

Univ.Prof. DDr. Rupert Klieber, Universität Wien